Lyme-Borreliose ist in der Schweiz weit verbreitet und verursacht meist typische Beschwerden wie Hautveränderungen, Gelenkschmerzen oder neurologische Symptome. Weniger bekannt ist, dass Borrelien in seltenen Fällen auch das autonome Nervensystem betreffen können – einschliesslich der Nerven, die den Darm steuern. In der Fachliteratur wird dies gelegentlich als „Bell’s Palsy of the Gut“ bezeichnet.
Was bedeutet „Bell’s Palsy of the Gut“?
Der Begriff beschreibt eine Funktionsstörung des enterischen Nervensystems, bei der der Darm ähnlich betroffen ist wie der Gesichtsnerv bei der klassischen Bell-Lähmung. Es handelt sich nicht um eine offizielle Diagnose, sondern um ein Erklärungsmodell, das in Einzelfällen beobachtet wurde.
Betroffene entwickeln Symptome einer schweren Motilitätsstörung, ohne dass ein mechanisches Hindernis vorliegt. In seltenen Fällen kann dies nach einer Borrelieninfektion auftreten.
Wie können Borrelien den Darm beeinflussen?
Borrelia burgdorferi und insbesondere Borrelia garinii sind neurotrope Bakterien. Sie können das zentrale, periphere und autonome Nervensystem betreffen. Wenn entzündliche Prozesse oder Nervenschädigungen im Bereich des Darmnervensystems auftreten, können Motilitätsprobleme entstehen.
- Gestörte Weiterleitung von Reizen im enterischen Nervensystem
- verminderte Peristaltik und Darmträgheit
- sekundäre Entzündungsreaktionen im Darm
- Veränderungen des Mikrobioms
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich einzelne Fallberichte, in denen Patientinnen und Patienten nach einer Borrelieninfektion eine ausgeprägte pseudoobstruktive Symptomatik entwickelt haben.
Typische Beschwerden bei autonomer Beteiligung
- starke Blähungen und Darmgeräusche
- Gefühl einer „Blockade“, ohne strukturellen Befund
- Übelkeit und frühes Sättigungsgefühl
- schwere Verstopfung oder unregelmässiger Stuhlgang
- Gewichtsverlust durch reduzierte Nahrungsaufnahme
Wann besteht der Verdacht auf einen Zusammenhang?
Ein Zusammenhang zwischen Borreliose und Motilitätsstörung wird vor allem dann erwogen, wenn folgende Elemente zusammentreffen:
- gesicherte oder wahrscheinliche Borrelieninfektion in der Vorgeschichte
- neu auftretende, ausgeprägte Darmträgheit ohne mechanische Obstruktion
- autonome Symptome wie Herzfrequenzschwankungen, Blutdruckprobleme oder Schweissregulationsstörungen
- keine andere ausreichende Erklärung wie genetische oder autoimmune Ursachen
In solchen Fällen sollte interdisziplinär abgeklärt werden, ob eine autonome Neuroborreliose vorliegen könnte.
Diagnostik in der Schweiz
Die Abklärung erfolgt in mehreren Schritten und erfordert häufig Zusammenarbeit zwischen Neurologie, Infektiologie und Gastroenterologie.
- Liquorpunktion (Nachweis intrathekaler Antikörpersynthese)
- Serologie, Immunoblot
- Motilitätsuntersuchungen (antroduodenale Manometrie, Transitzeitmessungen)
- MRI zur Beurteilung autonomer Nervenstrukturen
- Mikrobiomanalyse bei Verdacht auf dysbiotische Veränderungen
In der Schweiz verfügen insbesondere Universitätsspitäler über Expertise bei komplexen Borrelioseverläufen.
Therapieansätze
Die Behandlung richtet sich nach dem individuellen Befund. Es gibt keine Standardtherapie für „Bell’s Palsy of the Gut“, jedoch mehrere sinnvolle Ansätze.
1. Borrelienbezogene Therapie
- antibiotische Therapie bei gesicherter Neuroborreliose
- Behandlung gemäss Schweizerischer Infektiologie-Leitlinien
2. Behandlung der Motilitätsstörung
- Motilitätsfördernde Medikamente
- antibiotische Therapie bei bakterieller Überwucherung
- angepasste Ernährungstherapie
- Schmerzmanagement
3. Mikrobiomorientierte Therapie
- gezielte Probiotika
- Reduktion entzündungsfördernder Keime
Bei schweren Verläufen kann eine intensivierte interdisziplinäre Betreuung notwendig werden.
Wann sollten Betroffene ärztliche Hilfe suchen?
- wenn Verdauungsbeschwerden über Wochen anhalten
- bei starkem Gewichtsverlust
- wenn autonome Symptome hinzukommen
- bei Verdacht auf eine mögliche Neuroborreliose
- wenn Standardtherapien keine Besserung bringen
Fazit
„Bell’s Palsy of the Gut“ ist kein offizieller Krankheitsbegriff, beschreibt jedoch eine seltene, aber klinisch relevante Beobachtung: In Ausnahmefällen kann eine Borrelieninfektion das autonome Nervensystem so beeinflussen, dass schwere Darmmotilitätsstörungen entstehen. Die Abklärung sollte immer interdisziplinär erfolgen.
Dr. med. Jens Westphal und sein Team unterstützen Betroffene bei der Diagnostik und Behandlung komplexer Neuroborrelioseverläufe – strukturiert, verständlich und individuell.