Seltene Krankheiten betreffen in der Schweiz rund 500’000 Menschen.
Für viele ist die Diagnose nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale Herausforderung:
Isolation, fehlendes Verständnis im Umfeld und Unsicherheit im Umgang mit Behörden gehören zum Alltag.
Selbsthilfegruppen und Netzwerke bieten hier eine entscheidende Stütze – sie schaffen Gemeinschaft, vermitteln Wissen
und verschaffen Betroffenen eine Stimme in der Öffentlichkeit.
Dieser Artikel zeigt im Detail, welche Formen der Selbsthilfe es gibt, wie sie organisiert sind und welche Chancen sie eröffnen.
Warum Selbsthilfe bei seltenen Krankheiten so wichtig ist
Seltene Krankheiten sind per Definition Erkrankungen, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betreffen.
In der Schweiz gilt eine Krankheit als selten, wenn weniger als fünf von 10’000 Menschen betroffen sind.
Für Betroffene bedeutet das oft: Sie kennen niemanden in ihrem Umfeld mit derselben Diagnose.
Diese Einsamkeit verstärkt die Belastung zusätzlich zu den körperlichen Symptomen.
Psychosoziale Bedeutung
Der Austausch mit anderen Betroffenen hat eine nachweislich positive Wirkung auf die psychische Gesundheit.
Studien aus Deutschland und der Schweiz zeigen, dass Menschen, die regelmässig an Selbsthilfegruppen teilnehmen,
weniger depressive Symptome entwickeln und ihre Lebensqualität höher einschätzen.
Der Grund: In der Gruppe entsteht ein Raum des Verständnisses, frei von Rechtfertigungsdruck.
Hier müssen Patientinnen und Patienten nicht erklären, warum sie erschöpft sind oder weshalb bestimmte Therapien belastend sind – die anderen wissen es aus eigener Erfahrung.
Praktischer Nutzen
Selbsthilfegruppen sind auch eine Informationsquelle.
Während Ärztinnen und Ärzte medizinische Aspekte erklären, erfahren Betroffene in der Gruppe,
wie sie im Alltag konkret mit ihrer Krankheit umgehen können:
Welche Hilfsmittel wirklich nützlich sind, welche Spitäler oder Fachzentren Erfahrung haben oder wie man bei Krankenkassen erfolgreich Einsprache einlegt.
Diese „gelebte Erfahrung“ ist einzigartig und ergänzt die medizinische Versorgung ideal.
Politische Bedeutung
Einzelne Betroffene haben kaum Einfluss auf gesundheitspolitische Entscheidungen.
Bündeln sich jedoch Stimmen in Selbsthilfeorganisationen, entsteht Gewicht.
In der Schweiz vertritt ProRaris die Interessen von Menschen mit seltenen Krankheiten gegenüber Politik, Behörden und Versicherungen.
Sie setzt sich dafür ein, dass Diagnostik, Therapien und Unterstützung besser zugänglich werden.
Auch auf europäischer Ebene (z. B. EURORDIS) spielt Vernetzung eine entscheidende Rolle.
- Gemeinschaft: Niemand ist mit seiner Krankheit allein
- Erfahrungsaustausch: Praktische Tipps für Alltag, Bürokratie und Therapien
- Psychische Entlastung: Weniger Depression und Isolation
- Stärkung: Selbstbewusstsein im Umgang mit Krankheit wächst
- Einfluss: Gemeinsame Stimme gegenüber Politik und Krankenkassen
Strukturen der Selbsthilfe in der Schweiz
Die Selbsthilfe in der Schweiz ist vielfältig organisiert.
Sie reicht von kleinen, lokalen Gruppen bis zu nationalen und internationalen Netzwerken.
Für Betroffene ist es wichtig, die Unterschiede zu kennen, um die passende Unterstützung zu finden.
Lokale Selbsthilfegruppen
In vielen Städten gibt es Gruppen, die sich regelmässig in Gemeindezentren, Spitälern oder privaten Räumen treffen.
Diese Gruppen sind besonders wertvoll, weil sie persönliche Nähe und direkten Austausch ermöglichen.
Man kennt sich, unterstützt sich im Alltag und organisiert gemeinsame Aktivitäten – vom Kaffee-Treffen bis zu Ausflügen.
Kantonale Selbsthilfestellen
Jeder Kanton betreibt Stellen, die Selbsthilfegruppen koordinieren.
Sie bieten Infrastruktur, Beratung und Vermittlung.
Wer eine Gruppe sucht oder selbst gründen möchte, findet hier Unterstützung.
In Zürich, Bern oder Basel gibt es beispielsweise Stellen, die Räume für Gruppentreffen bereitstellen oder Schulungen für Moderatorinnen anbieten.
Nationale Organisationen
ProRaris ist die wichtigste nationale Dachorganisation für seltene Krankheiten.
Sie vertritt über 100 Patientenorganisationen und schafft Sichtbarkeit auf Bundesebene.
Daneben gibt es viele krankheitsspezifische Vereine, wie Mukoviszidose Schweiz oder die Schweizerische Muskelgesellschaft.
Sie bieten nicht nur Austausch, sondern auch konkrete Unterstützung, etwa mit Informationsbroschüren oder Rechtsberatung.
Internationale Netzwerke
Da seltene Krankheiten oft nur sehr wenige Betroffene pro Land haben, sind internationale Kontakte entscheidend.
EURORDIS vernetzt Patientengruppen europaweit und organisiert den jährlichen „Rare Disease Day“.
Auch auf globaler Ebene entstehen zunehmend Netzwerke, die Forschung und Patienteninteressen verbinden.
- ProRaris – Dachorganisation für seltene Krankheiten
- Selbsthilfe Schweiz – nationale Vernetzung und Unterstützung
- Kantonale Selbsthilfestellen – z. B. Zürich, Bern, Basel
- Pro Infirmis – Beratung und finanzielle Hilfen für Menschen mit Behinderungen
- Krankheitsspezifische Vereine wie Mukoviszidose Schweiz oder Schweizerische Muskelgesellschaft
Wie finde ich die passende Selbsthilfegruppe?
Die Suche nach der richtigen Gruppe ist nicht immer einfach – gerade bei sehr seltenen Diagnosen.
Manche Patientinnen und Patienten finden sofort Anschluss, andere müssen Umwege gehen.
Folgende Wege sind in der Schweiz besonders hilfreich:
- Kontaktaufnahme mit Selbsthilfe Schweiz oder einer kantonalen Selbsthilfestelle
- Recherche auf der Website von ProRaris, die viele Gruppen auflistet
- Fragen beim Universitätsspital oder bei Fachärzten nach bekannten Patientennetzwerken
- Nutzung von Online-Plattformen und Foren als Ergänzung
- Teilnahme an Informationsveranstaltungen, Kongressen oder Patiententagen
Wenn es keine spezifische Gruppe für die eigene Krankheit gibt, sind übergreifende Gruppen für chronisch Kranke oder Gruppen nach Symptomschwerpunkt eine gute Alternative.
Auch die Gründung einer eigenen Gruppe ist möglich – kantonale Stellen unterstützen mit Beratung, Moderationsschulungen und Räumen.
- Den ersten Kontakt per E-Mail oder Telefon aufnehmen – viele Gruppen haben Ansprechpersonen
- Einfach „hineinschnuppern“ – Teilnahme ist unverbindlich
- Keine Angst vor „falschen Erwartungen“ – Gruppen leben von Vielfalt
- Eigeninitiative zeigen – auch kleine Gruppen können viel bewirken
Digitale Selbsthilfe: Chancen und Risiken
Immer mehr Betroffene nutzen digitale Kanäle: WhatsApp-Gruppen, Facebook-Communities oder spezialisierte Foren.
Gerade bei seltenen Krankheiten, bei denen es im Umkreis kaum andere Betroffene gibt, sind diese Angebote unschätzbar wertvoll.
Sie ermöglichen Austausch rund um die Uhr und über Ländergrenzen hinweg.
Chancen
- Niedrigschwelliger Zugang – Teilnahme von zu Hause aus
- Internationale Kontakte möglich
- Schnelle Hilfe bei akuten Fragen
- Gefühl von ständiger Erreichbarkeit einer Gemeinschaft
Risiken
- Gefahr von Fehlinformationen – nicht alles, was online steht, ist seriös
- Datenschutzprobleme bei offenen Gruppen
- Oberflächlicher Austausch ohne persönliche Nähe
- Gefahr von Überforderung durch ständige Erreichbarkeit
Digitale Selbsthilfe kann eine wertvolle Ergänzung sein, sollte aber durch persönliche Kontakte oder professionelle Beratung ergänzt werden.
Praxisbeispiele aus der Schweiz
Fall 1: Sabine, 34, mit einer seltenen Muskelkrankheit:
Sie fand keine lokale Gruppe und schloss sich einer internationalen Online-Gruppe an.
Der Austausch half ihr, praktische Tipps für Alltag und Behörden zu bekommen.
Gleichzeitig besuchte sie überregionale Patiententage, um auch persönliche Kontakte zu pflegen.
Fall 2: Familie Steiner mit einem betroffenen Kind:
Sie gründeten selbst eine kleine lokale Gruppe für Stoffwechselkrankheiten.
Mit Unterstützung der kantonalen Selbsthilfestelle erhielten sie Räume und Moderationsschulungen.
Heute treffen sich zehn Familien regelmässig – für Eltern, aber auch für gemeinsame Freizeitangebote der Kinder.
Fall 3: Luca, 40, seltene Autoimmunerkrankung:
Durch eine Gruppe lernte er, wie er seine Krankenkasse bei der Hilfsmittelversorgung erfolgreich in die Pflicht nehmen konnte.
„Ohne die Hinweise aus der Gruppe hätte ich nie erfahren, dass mir ein Kostenzuschuss rechtlich zusteht.“
- Hilfen bei IV-Anträgen und Krankenkassen
- Informationen über spezialisierte Kliniken
- Unterstützung bei finanziellen Belastungen durch Stiftungen
- Psychische Stabilisierung durch Austausch
- Neue soziale Kontakte und Freundschaften
FAQ: Häufige Fragen
- Kosten Selbsthilfegruppen Geld?
- In der Regel sind sie kostenlos oder erheben kleine Beiträge für Raummiete oder Material. Viele werden kantonal unterstützt.
- Gibt es Gruppen für jede seltene Krankheit?
- Nein – bei sehr seltenen Erkrankungen sind Gruppen oft klein oder fehlen. In diesem Fall sind übergreifende Gruppen oder digitale Netzwerke eine Option.
- Dürfen Angehörige teilnehmen?
- Ja, viele Gruppen richten sich auch an Angehörige. Sie sind ebenfalls stark belastet und profitieren vom Austausch.
- Wie finde ich eine seriöse Online-Gruppe?
- Über Patientennetzwerke wie ProRaris oder EURORDIS. Offene Facebook-Gruppen sind mit Vorsicht zu nutzen.
- Was, wenn ich keine passende Gruppe finde?
- Dann lohnt es sich, selbst eine zu gründen. Kantonale Stellen bieten Unterstützung bei Organisation und Moderation.
Fazit
Selbsthilfegruppen und Netzwerke sind ein unverzichtbarer Bestandteil der Versorgung bei seltenen Krankheiten.
Sie lindern Isolation, vermitteln praktische Tipps, stärken das Selbstbewusstsein und geben Betroffenen eine Stimme.
In der Schweiz gibt es ein starkes Netz an lokalen, kantonalen, nationalen und internationalen Strukturen.
Wer den ersten Schritt wagt, erlebt oft eine grosse Entlastung: Die Erkenntnis, dass man nicht allein ist, ist für viele Betroffene der wichtigste Therapieeffekt.
Dr. med. Jens Westphal und sein Team empfehlen Patientinnen und Patienten ausdrücklich, diese Möglichkeiten zu nutzen –
als wertvolle Ergänzung zur medizinischen Betreuung und als Chance, gemeinsam mit anderen die eigene Lebensqualität nachhaltig zu verbessern.